Ein Schatzkästchen, in dem man in wenigen Minuten, wie auf einem Zeitstrahl fast 800 Jahre Zeitgeschichte durchschreiten kann, ist das alte Burgmannshaus auf dem Bilstein in Iserlohn. Das um 1260 urkundlich belegte Gebäude ist das älteste weltliche Gebäude Iserlohns, war einst Bestandteil der Stadtmauer und Wehranlage und wurde neben einem der ehemaligen Stadttore in die Stadtmauer gebaut. In seiner wechselvollen Nutzungsgeschichte hat es mal als Lateinschule, Stadtgefängnis und mal als Kindergarten gedient. Nach einem großen Stadtbrand, dem auch das Burgmannshaus zum Opfer fiel, wurden die oberen ehemaligen Fachwerkstockwerke in Stein wieder aufgebaut und 1764 neu bezogen, wie man an den eisernen Zahlen auf der Vorderseite des Gebäudes ablesen kann. In direkter Nachbarschaft erhebt sich die Oberste Stadtkirche, deren Anfänge auf 1330 mit einer Kapelle an gleicher Stelle datiert sind und in ihrer heutige Form nach einem Stadtbrand Anfang 1500 erbaut wurde.
„Wahrzeichen – Zeitzeugen der Geschichte“
Diese Informationen zur Entstehungsgeschichte des Burgarchives, wusste die Archivpflegerin Pfrn. Brigitte Zywitz bei der Begrüßung der Gäste zur ersten der fünf Führungen am Tag des offenen Denkmals zu berichten. In diesem europaweiten Angebot, das in diesem Jahr unter dem Thema. „Wahrzeichen – Zeitzeugen der Geschichte“ steht, gibt es die Chance Gebäude und Orte zu besichtigen, zu denen an anderen Tagen den „normalen“ Bürgerinnen und Bürgern der Zugang verschlossen bleibt.
Doch an diesem besonderen Tag ging es nur zu einem kleinen Teil um das Gebäude. Denn seit 1978 schützen seine Mauern das Burgarchiv des Evangelischen Gemeindeverbandes in Iserlohn mit seiner beeindruckenden Sammlung von rund 60.000 Dokumenten und Plänen, darunter die Varnhagensche Bibliothek mit ca. 1.800 Bänden vom 15.-19. Jahrhundert. Hierbei handelt es sich um die Familienbibliothek der Iserlohner Pfarrersfamilie Varnhagen, die dieses einmalige kultur- und geistesgeschichtliche Denkmal der Kirchengemeinde um 1900 vererbt hat.
Besondere Schätze sind davon die sieben Inkunabeln, Werke aus der gutenbergischen Werkstatt und damit aus den Anfängen des Buchdrucks, sowie zwei Kriegstagebücher aus dem Ersten Weltkrieg und Predigten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Aber auch zahlreiche Erinnerungsstücke aus den Kirchengemeinden werden hier präsentiert: z.B. Abendmahlskelche, eine Kindergottesdienstfahne von 1922 und einiges mehr, sowie eine Sammlung von Gesangbüchern und Bibeln und die Kirchenbücher bis 1900
Bergen – Erhalten – Forschen
Gut aufgehoben werden all diese Schätze in einem entsprechend klimatisierten Raum, der ganz anders als das Gebäude vermuten lässt, mit modernen Rollregalen ausgestattet ist, in denen die Bücher wohl sortiert in langen Reihen stehen. Doch das war nicht immer so. Über viele Jahrzehnte im vergangenen Jahrhundert galt vielen Dokumenten aus der Kirchengeschichte des Kirchspiels Iserlohn keine besondere Aufmerksamkeit. Sie wurden zum Teil in Kellerräumen gestapelt gelagert, wo sie dem schleichenden Verfall preisgegeben waren. Nach ihrer Entdeckung begann Pfr. Hans-Martin Herbers ab 1971 ihre Rettung, ihre systematische Aufbereitung und Unterbringung im Burgarchiv.
„Was sie hier sehen, sind keine abgeschobenen Zeugen der Vergangenheit, sondern Zeugen der Geschichte, die, wenn sie durchforscht und wahrgenommen werden, etwas zu unserer Gegenwart zu sagen haben“, weiß Pfrn. Zywitz. „Es gibt immer wieder eine Reihe Anfragen, die sich mit Einzelheiten zur Entwicklungsgeschichte der Gemeinden befassen oder zu Namensgebungen wie „Seit wann heißt die Kirchtreppe offiziell Kirchtreppe?“ Und dann beginnt die Recherche wie eine Detektivarbeit an ungelösten Fällen. Zurzeit forschen wir zur Geschichte des ehemaligen ev. Waisenhauses, das 2026 ein 250-jähriges Jubiläum feiert.“
Ein Lob des Ehrenamtes
Eine riesige Erleichterung bei dieser Sucharbeit ist die abgeschlossene digitale Erfassung des gesamten Bestandes und die Digitalisierung des Einzelblattarchivs mit seinen 40.000 Dokumenten, die inzwischen auch nach Stichworten abrufbar ist. Darüber hinaus existiert eine umfangreiche, ebenfalls digitalisierte Bildsammlung. Möglich war die Bewältigung einer solchen zeitaufwendigen Aufgabe aber nur durch die intensive Mitarbeit der Ehrenamtlichen. Denn neben der Erfassung der historischen Dokumente wird die Aufnahme ihrer Inhalte durch das aufwendige Entziffern und Lesen der unterschiedlichen Hand- und Druckschriften erschwert, die zum großen Teil in Sütterlin oder Kanzleischrift überwiegend in unterschiedlichem Deutsch, aber auch Französisch und Latein verfasst sind.
Volksliederhandschrift in alter deutscher Sprache
Überraschungen und außergewöhnliche Entdeckungen gibt es manchmal auch bei der Recherche- und Restaurierungsarbeit an den Büchern, weiß Pfrn. Zywitz zu berichten. Während sie das Hortus sanitatis, ein besonders wertvolles handkoloriertes Kräuterbuch mit heilkundlichem Wissen von 1485 aus der Werkstatt Gutenbergs präsentiert, erklärt sie neben dem Vorgang des Buchdrucks auch die Kunst des Buchbindens und der Herstellung der Einbände. So wurde bei der Restaurierung eines gepolsterten Einbandes als Polstermaterial die Iserlohner Volksliederhandschrift in alter deutscher Sprache von 1544 entdeckt, die ohne die Arbeit an dem Buch wohl für immer verschollen geblieben wäre.
Ein anderes außergewöhnliches Dokument ist eine Rentenliste aus dem Jahr 1446, in der nicht etwa die Zahlungen an Pfarrer im Rentenalter dokumentiert sind, sondern die Abgaben, die in Waren, Geld und Dienstleistungen u.a. als Wachs, Kerzen oder auch Zinn zum Erhalt und zur Bewirtschaftung der Kirchengemeinde von ihren Gemeindegliedern geleistet wurden.
Wie der Blick durch ein Fenster
„Ein Buch aufschlagen ist wie der Blick durch ein Fenster in eine andere Zeit, aus der wir kommen“, sagt Pfrn. Zywitz, die in ihrem Nebenamt als Archivpflegerin aber auch sagt: „Archivpflege bedeutet diese wunderbaren Schätze zu schützen und zu erhalten, doch das kann nicht nur wegschließen heißen. Denn lebendig werden sie für uns, wenn sie auch entsprechend zugänglich sind, genutzt und für uns heute entschlüsselt werden. Dazu muss man sie, mit den entsprechenden Schutzvorkehrungen, auch in die Hand nehmen.“
Bücher, die auch weiterhin in die Hand genommen werden sollen, wurden auf dem Kirchplatz vor dem Burgarchiv auf einem Bücherflohmarkt günstig und nach Kategorien sortiert angeboten, was von einigen auch gut genutzt wurde. Dort wurde auch über die Möglichkeit von Buchpatenschaften informiert, die gesucht werden, damit die wertvollen Schätze des Archivs, die antiken Bücher erhalten werden können.
Ein Ort, zu dem man sich bei schönem Wetter gerne mit einem lesenswerten Buch zurückziehen würde, ist der kleine schmale Garten zwischen Stadtmauer und Oberste Stadtkirche, der an diesem Tag für die Gäste geöffnet und zu besichtigen war. Umhüllt vom Duft der Rosen könnte sich das Fenster der Geschichten zwischen zwei Buchdeckeln weit öffnen und zu neuen Erfahrungen und Erkenntnissen beitragen.
Für die Einblicke und die Bereicherung an diesem Tag sagten die Besucherinnen und Besucher den Ehrenamtlichen und der nebenamtlichen Pfarrerin für die wertvolle Arbeit von Herzen danke schön!
Wer das Burgarchiv zu Recherchezwecken oder aus anderen Anlässen besuchen möchte, erfährt hier die notwendigen Informationen.