Liebe Schwestern und Brüder,
das war Martin Luthers zentrale Lebensfrage. Im Mittelalter waren die Menschen gequält von der Sündhaftigkeit ihres Lebens. Heute, mehr als 500 Jahre später, sind sie gequält von der Unvollkommenheit ihres Lebens. Wir leben in einer Welt, in der Niederlagen nicht vorgesehen sind. Nur die Sieger werden geehrt. Unser Wissen ist groß, unsere Weisheit klein. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die sich hauptsächlich in ihrem Können und Gelingen einleuchtet. Wir erleben und erleiden eine Gesellschaft, in der Sinn durch Effektivität, Effizienz und Rentabilität ersetzt wird. Menschen sind bereit, für Effekte zu bezahlten, nicht aber für Sinn, Bildung und sinnvolles Handeln. Wir sind Kinder dieser säkularen Gesellschaft und stehen ihr nicht einfach nur gegenüber. Wir sind die Gesellschaft, in der wir leben. Wir alle tragen die Signatur dieser Zeit.
So wenig Luthers Frage unsere Frage ist, so sehr leuchtet mir seine reformatorische Entdeckung ein: sola gratia. Allein aus Gnade!
Gnade heißt, dass ich bin, weil mir zu meinem Sein verholfen wird. Es ist mir erlaubt, ein bedürftiges Wesen zu sein. Das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen. Es ist ein Geschenk: die Liebe, das Blut in meinen Adern, die Luft zum Atmen, die Menschen, die mir am Herzen liegen. Allein aus Gnade bin ich Mensch, nie perfekt und doch einzigartig. Als unvollkommener Mensch bleibe ich bedürftig. In den Chaosängsten seiner Zeit hatte Luther entdeckt, dass Gott das Zerbrochene ansieht und das Fragment liebt. Gott will nicht meine Perfektion, er verspricht mir seine Vollkommenheit zu schenken. Aus Gnade.
In einer Zeit, in der sich Menschen gezwungen fühlen, gnadenlos auf Stärke zu setzen, möchte ich es wagen, zur Reformation zurückzukehren: Ich ermutige Sie, der Gnade Gottes zu vertrauen. Das ist entlastend und deshalb heilsam. Das ist befreiend und deshalb wohltuend. Das stärkt den Geist, beflügelt die Seele. Das ist sinnstiftend und deshalb lohnend. Reformation – in diesem Jahr für mich ein Fest der Besinnung auf die Grundwerte unserer christlichen Existenz.
An vielen Orten in unserem Kirchenkreis finden Gottesdienste zum Reformationstag, 31. Oktober 2024, statt. Dazu lade ich Sie ganz herzlich ein:
Schwerte, St. Viktor: Kanzelrede mit Kirchenoberhaupt Ulf Schlüter, 18 Uhr
Hemer, Ebbergkirche: Reformationsgottesdienst, 18 Uhr
Hohenlimburg, Reformierte Kirche, Regionaler Festgottesdienst zum Reformationstag, 18 Uhr
Iserlohn, Oberste Stadtkirche, Gottesdienst zum Reformationstag, 18 Uhr
Nachrodt, Kirche in Nachrodt, Reformationsgottesdienst, 18 Uhr
Hennen, Johanneskirche Hennen, Gottesdienst zum Reformationstag, 19 Uhr
Iserlohn, Johanneskirche Nußberg, Reformationsgottesdienst, 19 Uhr
Letmathe, Friedenskirche, Regionalgottesdienst zum Reformationstag, 19 Uhr
Westhofen, regionaler Gottesdienst zum Reformationstag, 19 Uhr
Herzliche Grüße,
Ihr Superintendent Oliver Günther