Ein Zwischenruf von Superintendent Oliver Günther zum Tag der deutschen Einheit
Der offizielle Tag der Deutschen Einheit ist der 3. Oktober. Es ist ein Tag des Gedenkens und der Erinnerung, ein historischer Tag; der Tag, an dem im Jahr 1990 die DDR formell in die Bundesrepublik eintrat. Der 3. Oktober ist ein Feiertag.
Woran erinnern wir uns eigentlich, wenn wir die Wiedervereinigung feiern? Oder anders gefragt: Was sollten wir nicht vergessen? Dass Demokratie Freiheit bedeutet! Dass vom Volk eine friedliche Revolution ausging! Dass Kerzen und Gebete für die Lebensfähigkeit der Hoffnung standen! Dass sich das Volk in den Kirchen versammelt hat! Dass die Würde jedes einzelnen Menschen ein Gebot der Freiheit, des Grundgesetzes und der Schöpfung ist!
Der inoffizielle Tag der Deutschen Einheit ist der 9. November 1989, der Tag, an dem kurz vor Mitternacht die Mauer fiel. Es gibt aber auch einen unbekannten Tag der Einheit! Dieser unbekannte Tag der Deutschen Einheit ist der 11. November 1989. Richard von Weizsäcker, er ist im Jahr 2015 verstorben, hat davon, wenn er gut aufgelegt war, mit Freude und glucksender Stimme erzählt.
»Ich melde: Keine besonderen Vorkommnisse!«
Es ist eher eine symbolische Geschichte, eine Art Gleichnis für das, was geschehen ist. Sie geht so: Bundespräsident Richard von Weizsäcker hielt sich in jener Nacht, als die Mauer fiel, ziemlich weit weg von Berlin auf. Er war nämlich in Tutzing am Starnberger See. Von dort brache er in Windeseile nach Berlin auf. Am 11. November 1989 besuchte er den Potsdamer Platz, jenen Ort, der seit dem Mauerbau 1961 zur symbolträchtigen Einöde zwischen Ost und West verkommen war. In den Morgenstunden hatten dort DDR-Soldaten damit begonnen, die Mauer aufzureißen und einen neuen Grenzübergang von Ost- nach Westberlin zu eröffnen. Weizsäcker ging auf die Soldaten zu, die hielten inne. Der Anführer der ostdeutschen Grenztruppen trat vor, nahm Haltung an, salutierte auf ostdeutschem Terrain vor dem westdeutschen Bundespräsidenten, nannte Namen und Dienstgrad und schnarrte: „Herr Bundespräsident. Ich melde: keine besonderen Vorkommnisse!“
Jeder Tag war in diesen Tagen ein besonderes Vorkommnis, jeder Tag war historisch. Aber es war so, als hätte dieser Ost-Salut vor dem West-Bundespräsidenten schon all das vorweggenommen, was in den darauffolgenden Monaten geschah: Aus dem westdeutschen Bundespräsidenten wurde der gesamtdeutsche, aus einem geteilten Land wurde ein vereintes.
Heute, im Jahr 2024, sind viele Erinnerungen längst blass geworden. Die Freude ist der Ernüchterung gewichen. Es wird weniger gebetet. Die Kerzen leuchten nicht mehr. Die Geschichte hat sich anders weiterentwickelt als viele erwartet hatten. Faschismus und Extremismus breiten sich wieder aus in unserem Land. Die Feinde unserer demokratischen Freiheit sind auf dem Vormarsch und greifen nach der Macht. Sie sitzen in Parlamenten und zersetzen unsere Freiheit von innen her. Die Resonanz des Volkes wächst – gleich wie die Sehnsucht nach Abschottung. Die Folge: die demokratischen Grundpfeiler unserer freiheitlichen Gesellschaft wackeln. Ganz Europa steht in der Gefahr, dass das Fundament unserer Wertegemeinschaft zerbröseln könnte. Es vergeht in diesen Tagen kein Tag, an dem es nicht besondere, erschütternde und Besorgnis erregende Vorkommnisse zu vermelden gibt.
Wie gehen wir damit um? Erinnern alleine reicht nicht! Wir tragen gemeinsam die Verantwortung für Freiheit und Demokratie. Wir alle tragen die Signatur unserer Zeit. Wir sind die Welt, in der wir leben. Wir stehen ihr nicht nur einfach gegenüber. Machen wir uns bewusst, was unsere demokratische Gesellschaftsordnung in diesen Tagen braucht: Menschen, die Mauern öffnen. Menschen, die verbinden. Menschen, die auf andere zugehen, Grenzen überwinden. Menschen mit integrativer Kraft. Menschen mit einem freiheitlichen Gestaltungswillen. Menschen, die die Strahlkraft vieler kleiner Lichter nicht geringschätzen. Dass Menschen, deren Hände zum Beten ruhen, frei werden zur Tat und zum Mut. Die Gedenktage zur Deutschen Einheit sind Anlass, sich der Geschichte, ihrer Gegenwart und unserer Zukunft zu stellen.
Im Namen des Ev. Kirchenkreises Iserlohn wünsche ich uns den Geist der Erinnerung und den Mut zur Verantwortung.
Oliver Günther
Superintendent im Ev. Kirchenkreis Iserlohn