Ulf Schlüter, theologischer Vizepräsident der evangelischen Kirche von Westfalen, hält Kanzelrede in St. Viktor
Eine Zeitansage an Kirche und Gesellschaft sollte es bei der diesjährigen traditionellen Kanzelrede am Reformationstag in St. Viktor geben, gesprochen vom Kirchenoberhaupt Westfalens, so hatte es Pfarrer Tom Damm in der Einladung für die Veranstaltung der Stadtkirchenarbeit formuliert. Und dieser durchaus großen Ankündigung wurde Ulf Schlüter, theologischer Vizepräsident der EKvW und kommissarischer Präses, gerecht.
„Liberty enlightening the world – Freiheit, die die Welt erleuchtet“ – mit diesen Worten, gesprochen vor 138 Jahren zur Einweihung der Freiheitsstatue im Hafen von New York, begann der ehemalige Dortmunder Superintendent seine Kanzelrede. Freiheit, das sollte das Leitmotiv seiner Ansprache sein, bei der er einen großen Bogen schlug von Amerika nach Europa, von der Vergangenheit in die Gegenwart, und natürlich auch zu Martin Luther, zur Reformation und zur aktuellen Situation der Kirche. Dabei betrachtete er auch die Schattenseiten und warf die Frage auf, um welche Freiheit es eigentlich gehe.
„Es ist so eine Sache mit der Freiheit und ihren Protagonisten“, sagte Ulf Schlüter immer wieder. Mit Blick auf Amerika thematisierte er die Vertreibung der Ureinwohner, den zügellosen Kapitalismus und die rassistischen Einstellungen von Donald Trump und vielen seiner Anhänger. Doch auch Europa sei bis heute geprägt von Imperialismus und Rassismus, viel mehr, als wir uns das oft eingestehen wollen.
Auch die Kirche und der viel gelobte und gefeierte Reformator hätten ihre Probleme mit der Freiheit. „Es stimmt so nicht, dass der Protestantismus per se die Fackel der Freiheit durch die Welt getragen hat“, stellte Schlüter klar. Luther etwa habe sich beim Kampf zwischen Bauern und Herrschern, als mit den Memminger Artikeln zum ersten Mal in Europa so etwas wie Menschenrechte formuliert wurden, auf die Seite der Machthaber geschlagen. Und noch in der heutigen Zeit missbrauchten einige in der evangelischen Kirche ihre eigene Freiheit zum Schaden anderer. Ein Sozialstaat, der an seine Grenzen komme, die Autokratie auf dem Vormarsch und „alte Gespenster“ in Gestalt des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine – viele Schattenseiten zeigte der Theologe auf. Und auch die Kirche selbst müsse sich radikal verändern.
Doch die Kirche, der Glaube und das Christentum hätten eben auch etwas entgegenzusetzen, eine Erkenntnis, die schon Paulus in der Bibel niederschrieb und die vor 500 Jahren Luther und andere Reformatoren antrieb: „Ihr seid durch Gott geliebt.“ Die Freiheit erlange man nicht durch das Einhalten der Gesetze, sondern allein durch Gnade. Schlüter rief dazu auf, auf diese Liebe und dieses Vertrauen zu setzten, entwaffnend und himmlisch.
Die Liebe als Programm, das trägt, das stellt sich Schlüter, der sich selbst nicht als Kirchenoberhaupt sieht, vor für „seine“ Kirche. Dem Applaus nach zu urteilen fand er zumindest an diesem Tag in St. Viktor in Schwerte schon einmal viele Mitstreiter.